Mainz: Gemeinsames Gedenken an Pogromnacht am 9. November

OB Michael Ebling: „Ich verneige mich vor den Opfern des 9. November. Sie sind unvergessen. Sie bleiben mitten unter uns.“

Mainz – Der 09. November bleibt der Gedenktag, an dem im Jahr 1938 die Alte Hauptsynagoge in Mainz in Brand gesteckt und geplündert wurde. Zur Erinnerung an alle Opfer und zur Mahnung, dass solches Unrecht nie wieder geschehen darf, hatten Oberbürgermeister Michael Ebling und die Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Mainz, Stella Schindler-Siegreich, zu einer Stunde des Gedenkens in die Synagoge (Synagogenplatz 1) in der Mainzer Neustadt eingeladen.

In einem Vortrag „Erinnerungen an Menschen. Von Deportierten und Deportationen“ widmete sich Suanne Urban, Geschäftsführerin des SchUM-Vereins, dem umfassenden Thema der Deportationen. Hierbei standen nicht die Abläufe, sondern vor allem die Menschen, die verschleppt wurden, im Zentrum des Interesses. Musikalisch umrahmt wurde die Gedenkstunde von Andrey Ariel Tsirlin, Stipendiat der Anni-Eisler-Lehmann-Stiftung.

Oberbürgermeister Michael Ebling betonte im Rahmen der Gedenkstunde in seiner Ansprache im Wortlaut:

„Wir gedenken heute der furchtbaren Ereignisse vom 9. November 1938 in Mainz. Wir gedenken der vielen unschuldigen Opfer, der Frauen, Männer und Kinder. Wir gedenken unserer ehemaligen jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürger. Die Pogromnacht, so wissen wir aus der Rückschau, war ein Wendepunkt: Sie war der Auftakt zum Völkermord.
Auch in Mainz brannten in dieser Nacht die Häuser, Geschäfte und Gotteshäuser. Und auch in Mainz wurden unter der Fahne von Rassenhass und Zerstörungswut Menschen gehetzt, gedemütigt und getötet.

Wo heute die neue Synagoge steht, stand bis zu der Nacht vor 78 Jahren die alte Mainzer Hauptsynagoge. Sie war seit ihrer Einweihung 1912 die zentrale Heimstatt der jüdischen Gemeinde in Mainz – und prägte neben dem Dom und der Christuskirche das Bild und das Leben unserer Stadt. Auch sie wurde in dieser Nacht vollständig vernichtet.
Wo wir heute gemeinsam gedenken, wütete damals der Terror am Schlimmsten. Ich will nicht verschweigen, dass es in dieser Nacht nicht nur Täter und Opfer gab, sondern auch manch einen nichtjüdischen Bürger, manch eine nichtjüdische Bürgerin, die mit Abscheu und Entsetzen auf diesen Terror reagierte oder den Opfern sogar beistand.
Ich kann aber ebenso wenig verschweigen, dass es noch sehr viel mehr Menschen gab, die einfach wegsahen oder sich an diesen barbarischen Taten beteiligten.

Wie konnte es dazu kommen? Wie konnte jeglicher Maßstab für Recht und Unrecht verloren gehen? Wie konnten Unmenschlichkeit und Terror auf so beispiellose Weise die Oberhand gewinnen? Und wie können wir heute verhindern, dass sich der Hass auf andere erneut ungehemmt entlädt?
Es sind schwierige Fragen, auf die es keine leichten Antworten gibt. Suchen müssen wir sie dennoch, das zeigen uns schmerzhaft die Nachrichten der vergangenen Wochen und Monate. Wie Sie alle haben auch mich diese Nachrichten über eine zu¬nehmende Hasskriminalität in unserem Land zutiefst beunruhigt. Über Straftaten also, die sich gegen politische Einstellungen, Nationalitäten, Hautfarben oder Religionen richten: Seit 15 Jahren steigt die Zahl solcher Straftaten kontinuierlich an. Das zeigt die Statistik. Rechtsextremistisches, fremdenfeindliches Gedankengut ist längst in der Mitte der Gesellschaft angekommen – in allen Schichten, in allen Bundesländern, in allen Generationen. Das ist die bittere Wahrheit.
Doch diese Wahrheit erzählt uns noch nichts darüber, wie sich diejenigen fühlen, gegen die sich der Hass richtet: die Männer und Frauen, die Mütter und Väter und Kinder mit anderer Hautfarbe, anderem Akzent, aus anderen Ländern oder mit anderer Religion. Sie erzählt noch nichts über unser eigenes Verhalten oder auch Versagen.

Von Albert Einstein stammen die Worte: „Die Welt ist viel zu gefährlich, um darin zu leben – nicht wegen der Menschen, die Böses tun, sondern wegen der Menschen, die daneben stehen und sie gewähren lassen.“
Toleranz, Respekt und Zivilcourage können nicht einfach von oben verordnet werden. Diese Werte müssen wir selbst leben und vorleben, denn sie bilden das Fundament unserer demokratischen Gesellschaft. Sie sind unser Rüstzeug zum Einschreiten, wenn andere Böses tun. Gerade das Wissen um die Gräueltaten der Vergangenheit kann uns dabei als Frühwarnsystem für das eigene Handeln helfen. Es kann uns helfen zu erkennen, wie schnell aus einzelnen Stimmen ein Chor des Hasses entstehen kann.

Auch aus diesem Grund ist eine Gedenkkultur, wie wir sie in unserem Land und auch in unserer Stadt bereits seit vielen Jahrzehnten pflegen, unverzichtbar. Sie unterstützt uns darin, ja sie zwingt uns dazu, aus den dunkelsten Kapiteln unserer Vergangenheit für die Zukunft zu lernen. Wäre es anders, wir würden uns wieder schuldig machen.

Dass so viele Menschen regelmäßig am 9. November hier in der Synagoge zusammenkommen – sowie in den Jahren vor dem Neubau dieses Gotteshauses bei Wind und Wetter auf der Straße –
ist für mich daher ein Zeichen der Verantwortung und Hoffnung. Ein ebensolches Zeichen sind für mich die weit über einhundert Stolpersteine in unserer Stadt, die an unsere ehemaligen jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürger erinnern – und zwar an den Orten, an denen sie zuletzt gewohnt haben, also mitten unter uns.

Und ein solches Zeichen sind die Veranstaltungen der Stadt Mainz und des Landes Rheinland-Pfalz zum Holocaust-Gedenktag am 27. Januar: Veranstaltungen, die erinnern und informieren sollen, die zugleich aber auch den generationenübergreifenden Dialog suchen. All das sind nur einige Beispiele unseres Gedenkens. Sie alle eint das Nachdenken über das, was war, und das, was ist.
Dieses Anliegen verfolgt auch die im vergangenen Jahr gegründete Stiftung „Haus des Erinnerns“ mit dem in die Zukunft gerichteten Zusatz: „für Demokratie und Akzeptanz“.

Das „Haus des Erinnerns“ soll ein Gedenkort werden, an dem wir sowohl zurückschauen in die Vergangenheit, als auch nach vorne blicken in die Zukunft; an dem wir das Wissen um die Verbrechen der NS-Diktatur verbinden mit dem Streiten für Demokratie; an dem wir die Geschichte der Verfolgung ebenso dokumentieren wie die vielfältigen demokratischen Bewegungen, die sich seither für unsere Gesellschaft, für unsere Meinungsfreiheit und für die Vielfalt an Nationen, Kulturen und Religionen in unserer Stadt einsetzen.

Denn wie formulierte es gerade Carolin Emcke in ihrer Dankesrede als frisch gekürte Friedenspreisträgerin? „Freiheit ist nichts, das man besitzt, sondern etwas, das man tut. […] Demokratie ist keine statische Gewissheit, sondern eine dynamische Übung im Umgang mit Ungewissheiten und Kritik.“

Wir müssen Demokratie immer wieder neu lernen. Wir müssen akzeptieren, dass wir auch nach Jahrzehnten in einer Demokratie manchmal wie der „Ochse vorm Tor stehen“ und auf Ungewissheiten und Unsicherheiten immer wieder aufs Neue Antworten und Lösungen finden müssen.
Dabei dürfen wir verschiedener Meinung sein. Wir dürfen uns sogar streiten. Aber wir dürfen nicht den Boden, auf dem wir stehen – das gemeinsame demokratische Fundament, das wir uns nach den Jahren der Diktatur mühevoll errichtet haben – jenen überlassen, die einfach nur am lautesten brüllen!
Das sind wir den Opfern des 9. November 1938 schuldig.

In diesem Sinne wünsche ich mir sehr, dass die Stiftung für ein „Haus des Erinnerns“ zu einer echten Bürgerstiftung avanciert; dass sie nicht nur Kraft eines Stadtratsbeschlusses umgesetzt wird, sondern weil sich die Bürgerinnen und Bürger selbst für einen solchen Ort des Gedenkens und des Lernens stark machen.
Meine Bitte daher an Sie, meine Damen und Herren: Bringen Sie sich in diese Stiftung ein, helfen Sie mit, sie zum Leben zu erwecken!

Mein großer Dank an dieser Stelle gilt den Initiatoren der Stiftung „Haus des Erinnerns“, allen voran Herrn Joachim Schulte, Frau Dr. Hedwig Brüchert und Herrn Dr. Ralf Erbar.
Mein Dank gilt zudem der Kulturdezernentin Marianne Grosse, die nicht nur den Auftrag des Stadtrates für eine solche Stiftung konsequent umgesetzt hat, sondern die sich des Themas „Gedenkkultur in Mainz“ auch in so besonderer Weise angenommen hat.
Und mein Dank gilt Stella Schindler-Siegreich für ihre Bereitschaft, im Stiftungsrat mitzuwirken: Für uns alle ist das mehr als nur ein symbolischer Akt, es ist ein Zeichen des Vertrauens.

Der 9. November 1938 erinnert uns an das dunkelste Kapitel unserer Geschichte – und er mahnt uns, dass eine demokratische und menschliche Gesellschaft keine Selbstverständlichkeit ist, sondern eine dauernde Aufgabe, der wir uns stellen und für die wir werben müssen.
Unser Land, unsere Demokratie, braucht eine starke und entschiedene Mehrheit. Auch daran erinnern uns die Opfer vom 9. November 1938.

Eines dieser Opfer war die damals 14-jährige Mainzer Jüdin Elsbeth Gärtner. Sie ahnte nach der Pogromnacht, „das dies der Anfang des absoluten Endes sein musste“. Elsbeth Gärtner ist nur eine der vielen Stimmen, die uns erahnen lassen, was in den Betroffenen von damals vorgegangen sein musste.

Frau Dr. Susanne Urban, Geschäftsführerin des SchUM-Vereins, hat diese und weitere Stimmen für uns gesammelt. Diese Stimmen und Schicksale wiegen stärker als jede abstrakte Zahl, als jede noch so faktenreiche Darstellung. Und sie wirken auch dann noch nach, wenn wir, meine Damen und Herren, längst wieder in unseren Alltag zurückgekehrt sein werden.
Sie wirken nach und sie leiten uns. Davon bin ich fest überzeugt.

Ich verneige mich voller Trauer und Mitgefühl vor den Opfern der schrecklichen Nacht vom 9. November 1938. Ich verneige mich vor den Opfern des Holocaust und vor unseren einstigen jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern.
Sie sind unvergessen. Sie bleiben mitten unter uns.“