Prof. Günter Schmolz, Leiter des Landesgesundheitsamtes im Regierungspräsidium Stuttgart: Kinderlähmung ist keine „Kinderkrankheit“

Weltpoliotag am 28. Oktober 2013

Der Weltpoliotag am 28. Oktober 2013 erinnert an Jonas Edward Salk (28.10.1914-23.06.1995) und an die durch seine Entdeckung des Poliovirus möglich gewordene Impfstoffentwicklung. Poliomyelitis (Kinderlähmung) ist eine Krankheit, die lebenslang schwerwiegende Folgen nach sich ziehen kann. Polioviren greifen muskelsteuernde Nervenzellen des Rückenmarks an, was zu bleibenden Lähmungserscheinungen führen kann. Ist die Atemmuskulatur betroffen, kann diese Krankheit einen tödlichen Verlauf nehmen.

Der Leiter des Landesgesundheitsamtes im Regierungspräsidium Stuttgart, Prof. Günter Schmolz, sagte anlässlich des diesjährigen Weltpoliotages: „Die Bezeichnung Kinderlähmung ist irreführend, weil auch Erwachsene daran erkranken können und weil bei Personen, die im Kindesalter an Poliomyelitis erkrankt waren, noch Jahrzehnte nach der Erkrankung erneute Lähmungserscheinungen und andere Symptome auftreten. Dieses Postpoliosyndrom ist leider in der Bevölkerung und bei Akteuren im Gesundheitssystem weitgehend unbekannt. Auch Ärzte kennen mitunter diese Spätfolgen der Poliomyelitis nicht.“ 

In Deutschland leben nach einer Schätzung 60 000 bis 100 000 vom Postpoliosyndrom Betroffene. Zunehmende Muskelschwäche und Muskelabbau, Schmerzen in Muskeln und Gelenken, Atem- oft auch Schluckprobleme sowie damit verbundene Schwierigkeiten im Alltag können als Folge einer Poliomyelitis im Kindesalter auftreten, ohne dass dieser Zusammenhang immer erkannt wird. 
Die Betroffenen haben deshalb häufig große Probleme, angemessene Behandlungs- und Reha-Maßnahmen zu erhalten, weil der Zusammenhang der aktuellen Symptome mit der zurückliegenden Viruserkrankung und entsprechende Therapieansätze nicht gesehen werden. Als Folge steigt das Risiko für Fehldiagnosen und die Empfehlung inadäquater Therapiemaßnahmen. Für die meisten Betroffenen, die bis zum Beginn des Postpoliosyndroms ein bewegtes „normales“ Leben mit Familie und im Beruf geführt haben, beginnt damit oft eine Zeit großer physischer und psychischer Schwierigkeiten. Die Betroffenen müssen Überanstrengungen meiden und mit Hilfe individueller Physiotherapie auf neurophysiologischer Basis versuchen, die noch vorhandene Muskelkraft so lange wie möglich zu erhalten.

Durch die Schutzimpfungen gegen Poliomyelitis konnte in den vergangenen Jahrzehnten vielen Menschen das Schicksal einer Kinderlähmung erspart bleiben. Dennoch ist Poliomyelitis auch nach über 50 Jahren der Bekämpfung noch nicht ganz verschwunden. Obwohl eine sichere und wirksame Impfung existiert, gibt es noch mehrere Länder wie Nigeria, Pakistan und Afghanistan, in denen Menschen regelmäßig an Poliomyelitis erkranken. Auch in Nachbarstaaten dieser Länder wie z.B. Angola, Tschad, DR Kongo oder in China gab und gibt es immer wieder Polio-Ausbrüche. Nach jüngsten Nachrichten aus Syrien sind auch dort wieder Poliomyelitis-Fälle aufgetreten. Besonders tragisch sind die Angriffe auf Impfhelfer und deren Ermordung wie vor kurzem in Pakistan. Nach Einschätzung der WHO besteht aktuell ein hohes Risiko, dass sich Polioviren wieder international ausbreiten können. 

Professor Schmolz weist deshalb darauf hin, dass eine hohe Durchimpfungsrate bei Kindern und in der gesamten Bevölkerung die wichtigste Schutzmöglichkeit ist.